Tim Krohns Menschliche Regungen

Verspieltheit(32)

Unterstützt von Katrin Rieder

Bevor er die angekündigte Geschichte erzählen wollte, stellte Moritz seine Materialsammlung zur Untersuchung sexueller Erfüllung und Enthaltsamkeit vor.

»Du hast nur fünf Kategorien sexueller Erfüllung, aber zehn Typen von Enthaltsamkeit?«, wunderte sich Selina, und Pit gab gleich mit seinen Kenntnissen des Kamasutra an, das über hundert Arten beizuschlafen unterschied.

Doch Moritz sagte: »In meiner Untersuchung geht es nicht um Stellungen, sondern um die Korrelation von Sexualität und Kreativität. Liebe nach dem Kamasutra zu machen, finde ich so kreativ wie das Besticken eines vorgedruckten Tischtuchs, wie das meine Omama gern tut.«

Pit sagte dazu erst mal nichts, und Petzi, die noch immer stand und eigentlich den letzten Zug nach Rheineck hatte nehmen wollen, setzte sich wieder hin, sie witterte eine Lehrstunde für Pit, die sie nicht verpassen wollte.

»Und wie weit bist du mit deinen Forschungen?«, erkundigte sich Selina.

»Immer wieder ganz am Anfang«, sagte Moritz mit Bedauern, »weil meine Hypothese sich andauernd ändert. Mittlerweile glaube ich, der kreativste Zustand liegt außerhalb meines Samples. Es ist der Weder-noch-Zustand, das Spiel mit den Möglichkeiten, die Phase vor der Entscheidung, ob wir sexuell aktiv werden oder nicht.«

»Aha«, sagte Selina und lächelte.

Pit wollte mehr vom Katalog sexueller Erfüllung hören, Petzi interessierte sich für die Kategorien von Enthaltsamkeit. Selina wartete, bis beide ausgeredet hatten, bevor sie fragte: »Und wo genau beginnt für dich das Sexuelle?«

Moritz fühlte, dass er unter ihrem Blick errötete. »Ich brauche erst noch etwas zu essen«, sagte er, stand auf und warf einen Blick in den Kühlschrank. »Wer will Würstchen mit scharfem englischem Senf?« Er setzte Wasser auf, und während er beim Herd wartete, gab er Antwort: »Wenn die Erotik da ist, kann alles Sex sein. Gleichzeitig braucht es dann gar keinen mehr. Der Sex selbst ist wie – na, wie Würstchen mit Senf nach einem Essen, das zwar hervorragend war, nur noch nicht satt gemacht hat.« Er grinste, und natürlich nahmen jetzt alle ein Würstchen.

»Autsch«, sagte Petzi beim ersten Bissen, denn der Senf war wirklich scharf, und fragte: »Wolltest du nicht ursprünglich eine Geschichte erzählen?«

»Doch«, sagte Moritz, und weil er inzwischen vergessen hatte, welche, erzählte er diese: »Im Winter war ich in der Kunstbuchhandlung in der Rämistrasse, unten im Keller, wo die Fotobände stehen. Ich war allein und sah mir Aktfotos an. Da kam eine unwirklich schöne Frau herunter, um ebenfalls zu stöbern. Sie hatte dichte, dunkle Locken und etwas vollkommen Grünes, Saftiges, wie frisch gepflücktes Obst. Ich wollte sie unbedingt küssen, und in der Vorstellung war das auch einfach. Doch als ich sie fragte, wurde mir dabei der Mund so trocken, dass das ein furchtbarer Kuss geworden wäre. Dazu kam, dass sie nicht Ja sagte, aber auch nicht etwa: ›Du hast einen Knall.‹ Sondern sie sah mich sehr offen an und fragte: ›Wozu sollte das gut sein?‹ Die Frage brachte mich aus der Fassung, ich stotterte völlig blöde etwas wie: ›Ich weiß auch nicht, es fiel mir eben so ein.‹ Freundlich sagte sie: ›Ich glaube nicht, dass das nötig ist‹, und wandte sich wieder einem Buch zu. Sie sah dermaßen bezaubernd und unberührbar aus! Ich entschuldigte mich tausendmal und ging aus dem Laden – das heißt: Ich stolperte und fiel vor ihr die Treppe hoch.«

Pit und Petzi lachten, sagten aber nichts dazu. Selina dagegen fragte: »Wäre der Kuss Sex gewesen?«

Moritz musste grinsen. »Das habe ich mir noch gar nicht überlegt«, gestand er. »Ich weiß nur, hätte ich sie nicht gefragt, wäre die Begegnung ein kreativer Impuls gewesen. Danach nicht mehr, weil die Sache eindeutig geworden war.«

»Mag sein«, sagte Selina, »aber du weichst mir aus. Kann ein Kuss Sex sein?« Dabei sah sie ihn so direkt an, dass er wieder errötete.

»Es kommt wohl auf den Kuss an«, sagte er, und gleich darauf küssten sie sich zwar, doch es geschah nichts Magisches. »Hm«, sagte er. »Vielleicht sind die Würstchen das Problem.«

Selina lachte. »Das finden wir heraus. Lass uns mal die Plätze tauschen.« Sie setzte sich neben Petzi und fragte sie: »Darf ich dich küssen?«

»Mich?«, fragte Petzi überrascht. Unwillkürlich blickte sie zu Pit hinüber, doch bevor er reagierte, sah sie wieder Selina an und nickte. »Ja, sehr gern. Lass mich nur noch runterschlucken.« Sie spülte den Mund mit dem billigen Rotwein aus, den Moritz aufgetischt hatte, Selina tat es ihr nach, und sie küssten sich.

»Moment«, rief Moritz, »ihr verfälscht das Resultat. So ist das kein Würstchenkuss mehr.«

»Dann koche uns nochmals welche«, schlug Selina fröhlich vor. »Jedenfalls war es ein schöner Kuss.«

»Das fand ich auch«, sagte Petzi leise.

»Ich habe keine Würstchen mehr«, erklärte Moritz, »und deshalb will ich jetzt auch einen Weinkuss.«

»Zwei«, verbesserte Selina, »einen mit mir und einen mit Petzi. Danach machen wir Auslegeordnung.«

»Und was ist mit mir?«, meldete sich Pit.

»Du hast dich noch nicht testen lassen«, antworteten Selina und Moritz unisono und brachten Petzi zum Lachen.

Nachdem sie sich geküsst hatten, stellte Petzi fest: »Ihr seht sehr schön aus.«

»Ihr zwei werdet auch schön aussehen«, sagte Selina und stand auf, um Moritz Platz zu machen. »Und der Kuss war schon viel besser.«

»Darf ich dich küssen?«, versicherte sich Moritz, als er neben Petzi Platz nahm. Flüchtig sah sie nochmals zu Pit hin, doch dabei nickte sie bereits. Allerdings spitzte sie die Lippen, und der Kuss wurde mehr ein Schmatzer.

»Das geht so nicht«, fand sogar Pit, der ofenbar den guten Verlierer mimen wollte. »Eure anderen Küsse waren deutlich länger.«

»Auf die Länge kommt es nicht an«, behauptete Petzi, fragte aber trotzdem: »Wie lange müssen wir denn küssen?«

»Müssen gar nicht«, stellte Moritz klar und rückte etwas von ihr ab.

»Nein, ich will ja«, sagte Petzi eilig und hielt seinen Arm fest.

»Beim Film sagt man, ab zehn Sekunden wird es richtig heiß«, erklärte Selina.

»Dann zähle ich bis zehn«, kündigte Pit an, und nachdem Petzi zaghaft wieder ihre Lippen auf die von Moritz gelegt hatte, begann er zu zählen. Dieser Kuss begann mit einer längeren sehr zarten Berührung, bis Moritz probeweise leicht in Petzis Unterlippe biss. Sie seufzte, biss zurück, schob ihre Zunge vor, und plötzlich überschwemmte offenbar sie beide eine Lust, die derart heftig war, dass Petzi Moritz wegstieß.

»Ihr wart erst bei 9«, erklärte Pit, dem das offenbar entgangen war.

Und Selina stellte melancholisch lächelnd fest: »Womit unsere Forschungsfrage beantwortet wäre: Ein Kuss kann Sex sein.«

»Ja«, sagte Moritz.

Petzi ihrerseits bedeckte die Lippen mit den Fingern und blieb still.

»Und trotzdem ein kreativer Impuls, das ist interessant«, fuhr Moritz fort. »Ich habe uns unter einer Linde gesehen, und du?«, fragte er Petzi.

Sie schüttelte nur wieder den Kopf, sah ihn mit wässrigen Augen an, erhob sich und rannte in ihre Wohnung.

Pit sah ihr erstaunt nach, tat dann aber, als ginge sie ihn nichts an. Während er sich Wein nachschenkte, sagte er: »Jetzt finden wir heraus, was geschieht, wenn ihr zwei euch bis zehn küsst, oder?«

»Du bist so ein Blödmann, Pit«, antwortete Selina. »Nun geh ihr schon nach, und lass sie die ganze Nacht nicht los. Aber wehe, du versuchst mit ihr zu schlafen.«

Pit zögerte, schließlich stand er aber auf. »Danke für das Essen«, sagte er und ging hinüber.

Moritz goss den Wein aus Pits Glas in seines um, schenkte Selina aus der Flasche nach und fragte: »Magst du bis zehn zählen?«

Selina schüttelte den Kopf. »Aus dem Spiel bin ich raus«, sagte sie. »Wir müssen erst ein neues finden, du und ich.«

»Ausgestiegen oder rausgeflogen?«, fragte Moritz.

»Ist doch egal«, antwortete sie. »Aber sind die beiden nicht süß? Ich hoffe, es ist zwischen ihnen nichts kaputtgegangen.«

»Kaputtgegangen gibt’s nicht«, sagte Moritz, »es gibt nur Zustandsveränderungen.«

»Sagt wer?«, fragte sie, doch Moritz winkte müde ab.

»Ist nur ein blöder Spruch«, sagte er. »Und ja, ich hofe auch, den beiden geht es gut.«