Tim Krohns Menschliche Regungen

Reife(81)

Unterstützt von Ronnie Sturzenegger

Erich Wyss hatte sich übernommen. Als er am zweiten Tag aufstehen und sich auf seine Absolutionsrunde zu den geprellten Interessenten machen wollte, wurde ihm so schwindlig, dass er es nur bis zum Sofa schaffte. „Gerda, mir ist nicht so gut“, rief er ins Schlafzimmer. „Ruf Herrn Brechbühl an und sag ihm, ich komme später. Oder noch besser, sag ihm, er soll Kaffee bringen, aber richtigen, keinen Kaffee Hag.“

„Warte“, sagte Gerda, und nachdem sie sich aus dem Bett gestemmt hatte, betrachtete sie ihn eingehend. „Du bist ganz käsig“, stellte sie fest. „Bist du sicher, dass ein Kaffee reicht? Ich würde lieber den Notfall rufen.“

„Unsinn“, sagte er, „Kaffee mit viel Zucker, und es geht mir wieder bestens. Aber wir haben nur Kaffee Hag.“

„Nein, wir hatten doch welchen gekauft, für Augustin“, widersprach sie und ging in die Küche. Von dort rief sie: „Aber ganz bestimmt lasse ich dich heute nicht zu den ganzen Leuten gehen. Du gehst mir überhaupt so bald nirgends mehr hin.“ Sie hörte ihn nur ächzen und etwas murmeln.

Nachdem er den Kaffee getrunken und ein Stück Zwieback gegessen hatte, erzählte er: „Wir waren gestern noch beim Hausmann, dem Freund vom Augustin, dem sie im Zug die Postcard gestohlen hatten. Auf dessen Konto all das Geld ging. Rainer heißt er und ist ein netter. Er hat angeboten, heute statt Herrn Brechbühl mitzukommen. So, wie der aussieht, könnte der mich sogar tragen. Nicht, dass ich meine, er sollte, aber mit dem fühle ich mich sicher.“

„Nein, du gehst mit niemandem“, erklärte Gerda. „Die ganze Besucherei ist eine Schnapsidee, das hatte ich dir von Anfang an gesagt.“

„Trotzdem hat du die Schweinsöhrchen gebacken“, stellte Erich fest.

„Ja, das war ein Fehler“, sagte sie. „Aber die werden wir schon los.“

Er erhob sich vorsichtig. „Mit geht es schon viel besser“, sagte er.

„Wohin willst du?“, fragte sie. „

Auf die Toilette“, sagte er. „Da wollte ich die ganze Zeit hin.“

„Nimm den Stuhl mit, halte dich an der Lehne fest“, sagte sie. „Wenn dir wieder schwindlig wird, setz dich sofort hin.“

So schaffte er es gut ins Bad, und Gerda rief erst Hubert Brechbühl an, um für Erich abzusagen, dann wählte sie das Ärztetelefon.

„Wir schicken jemanden“, versprach dort eine Frau. „Solange soll er keinesfalls aufstehen oder gar herumlaufen. Er könnte sich etwas brechen.“

Gerda ging zu Erich ins Bad und sagte: „Ich habe einen Arzt gerufen. Du sollst solange im Bad bleiben, am besten legst du dich auf den Teppich.“

Erich saß noch auf der Toilette, und es schien ihm nicht gut zu gehen, denn statt zu protestieren, legte er sich gehorsam zu Boden.

„Weißt du, wann ich das letzte Mal hier gelegen habe?“, fragte er, nachdem er eine Weile auf dem Rücken gelegen hatte. „Als der Augustin ein Baby war. Da ist er mal hier auf mir herumgekrochen. Ich weiß das noch, weil ich damals schon gesehen habe, dass da oben Schimmel wächst. Ruf die Verwaltung an, Gerda, die müssen einen Maler schicken.“

„Später“, versprach sie, „erst erledige ich alles andere.“ Der Arzt diagnostizierte einen Schwächenfall, gab Erich eine Spritze und informierte die Spitex, damit sie Gerda bei der Toilette half.

Als er weg war, ließ Gerda sich von Erich die Liste geben. Erst wollte er nicht. „Die kennen dich gar nicht“, sagte er. „Warum sollten sie dir glauben?“

„Vielleicht eben deshalb“, sagte sie. „Warum sollten sie dir noch glauben?“ Sie ging zurück ins Wohnzimmer und begann die Liste abzutelefonieren. „Sie hatten bisher nur mit meinem Mann und meinem Enkel zu tun“, erklärte sie den Leuten. „Es ging um ein Alterswohnprojekt am Plattensee. Leider hat sich mein Mann damit übernommen, und mein Enkel ist länger verreist. Ich fürchte, wir müssen das Ganze abblasen. Haben Sie etwa schon Geld einbezahlt?“

„Du machst das völlig falsch“, rief Erich, sobald sie aufgelegt hatte, „du musst ihnen vom Betrüger erzählen, es geht doch um den Betrüger. Du stellst es ja so dar, als scheitere die ganze Sache an mir.“

„Erich“, erklärte sie ruhig, „ich tue das auf meine Weise. Wenn die Leute noch nichts bezahlt haben, ist es so am besten, glaub mir. Ich will nicht, dass alle wissen, dass wir einem Betrüger aufgesessen sind. Und natürlich ist alles an dir gescheitert. Wir hatten ein sehr schönes kleines Wohnprojekt in Wallisellen, du hättest dich damit begnügen können.“

„Was für einen Blödsinn du da verzapftst“, rief er. „Als ich mit Augustin das Ganze plante, hatten wir das Angebot in Wallisellen überhaupt noch nicht.“

„Ich schließe jetzt die Tür, und du versuchst zu schlafen“, sagte sie nur. Und dann kam auch schon die Frau von der Spitex, um Gerda beim Duschen zu helfen und sie zu kämmen.

Danach rief sie Scholls an, die sie ja schon kennengelernt hatte und die, wie sie wusste, Geld überwiesen hatten. „Es tut mir leid, das sagen zu müssen, doch mein Mann war nicht aufrichtig mit Ihnen“, sagte sie zu Herrn Scholl. „Es ist so, dass er sich von einem Betrüger hat hinters Licht führen lassen, doch er hat sich zu sehr geschämt, um Ihnen das zu gestehen. Auch ich habe davon erst später erfahren. Es ist schon seine zweite Dummheit in diesem Jahr, und ich begreife langsam, dass ich besser auf ihn aufpassen muss.“ Herr Scholl reagierte darauf mit viel Verständnis und war bereit, auf sein Geld zu warten.

Die meisten, die sie anrief, hatten glücklicherweise noch nichts überwiesen, und mit ihnen unterhielt sich Gerda richtig nett. Viele lobten Erichs Mut und seinen vitalen Auftritt während des Beratungsgesprächs, auch Augustin kam gut weg. Was sie zu hören bekam, rührte Gerda, sie konnte sich gut vorstellen, wie fesch Erich gewirkt haben musste, und rief mehrmals: „Ach, da wäre ich gern dabei gewesen!“

Schön war auch das Telefonat mit einem Ehepaar Huber, sie hatten ebenfalls eine Freisprechanlage. Die beiden hatten überwiesen, doch sie schimpften nicht. Herr Huber sagte: „Für Sie muss das ja vor allem schlimm sein, liebe Frau Wyss – zusehen zu müssen, wie der eigene Ehemann sich und andere ins Unglück stürzt.“

„Er wirkte so stattlich“, sagte seine Frau, „und nun stellt sich heraus, dass er, wer weiß, nicht einmal mehr bei Sinnen ist!“

Gerda sagte daraufhin: „Ja, schön ist das nicht, und ich habe Angst davor, ihn einmal bevormunden lassen zu müssen. Ich glaube, es würde ihn umbringen.“

Herr Huber nannte ihr daraufhin die Nummer der Pro Senectute. „Oft ist es ein kleiner Schritt von der Glückseligkeit in die Verzweiflung“, sagte er. „Bevor er oder Sie sich etwas antun, rufen Sie dort an.“

Wirklich schlimm geriet nur ein Telefonat, mit einem Herrn Giovannoli. Er hatte schon gemerkt gehabt, dass etwas faul war, leider erst, nachdem er 20'000 Franken überwiesen hatte. Als Gerda ihm den Sachverhalt erklärte, beschimpfte er sie alle drei ganz übel, Erich, sie und Augustin, und war nicht einmal zufrieden, als sie ihm versprach, das Geld zu erstatten. Stattdessen rechnete er ihr vor, was Erich ihm an Profit verheißen hatte, und war erst halbwegs zufrieden, als Gerda einen Tausender draufschlug.

Als letzte rief sie Meyers an, die mit der Wohnung in Wallisellen. Sie wussten noch gar nichts von Erichs Ungarnplänen. Gerda klärte sie auf und beschönigte nicht, dass Erichs Abenteuerlust sie so viel Geld kostete, dass sie an neue Unternehmungen zurzeit nicht denken mochte. „Vor allem aber“, sagte sie, „bin ich mir nicht mehr sicher, ob mein Mann überhaupt noch gesellschaftstauglich ist.“

„Uns wiederum“, gestand ihr Frau Meyer, „wurde nie recht warm bei dem Gedanken, gemeinsam mit anderen bei unserem Sohn zur Miete zu wohnen. Viel zu schnell gerät man zwischen die Fronten. Und wenn ich Sie so höre, Frau Wyss, bin ich sicher, Ihr Mann und unser Eugen hätten sich andauernd in den Haaren gelegen, der Eugen ist auch so ein kleiner Diktator. Ich habe daher gar nichts dagegen, dass wir Ihren Vorstoss als schöne Fantasie in Erinnerung behalten, an die wir ab und zu mit Freude zurückdenken werden.“

Kurz nachdem sie aufgehängt hatten, rief Herr Meyer an. „Meine Frau hat mir eben von Ihrem Gespräch erzählt“, sagte er, „und ich möchte mich doch gern gebührend verabschieden. Und etwas möchte ich Ihnen auf den Weg geben, liebe Frau Wyss: Falls Ihr Mann dieser hässlichen Geschichte wegen von manchen verteufelt werden sollte – das geschieht ganz schnell –, dann rufen Sie sich bitte in Erinnerung, dass man die Radikalität und bisweilen Absurdität von uns Greisen auch in gutem Licht sehen kann. Bei manchen von uns versagt zuerst der Körper, andere werden erst launisch, kindisch oder sonstwie verschroben. Wir alle aber geraten irgendwie in Schieflage, bevor wir sterben. Die meisten Menschen bedauern das, ich nicht, oder nicht nur. Die ganze Welt ist so nett und glatt geworden, und die Jungen sind noch braver als der Rest. Dass wenigstens wir Alten ab und zu ein Körnchen Wildheit säen, ist so gesehen eine Freude.“

Von diesem Anruf wollte Gerda Erich erzählen, als sie ihm Schweinsöhrchen und Orangensaft ans Bett brachte. Doch ihn interessierte nur, wen sie alles am Draht gehabt hatte.

„Alle außer zwei Partien, Romers und Schläpfers, die nicht zuhause waren“, sagte sie. „Und ich konnte mich mit allen einigen.“

„Was heißt ‚einigen’?“, fragte er misstrauisch, „du hast doch hoffentlich keine Zugeständnisse gemacht?“

„Wir hatten Glück, die meisten hatten noch nichts überwiesen“, sagte sie. „Den anderen habe ich aber zugesagt, das Geld zu erstatten. Es sind 41'000 Franken.“

„Du spinnst“, rief er und verschüttete vor Ärger Orangensaft, „wir schulden niemandem etwas! Ich jedenfalls bezahle keinen Rappen.“

„Doch, das wirst du“, sagte sie. „Und nun sag mir lieber, wieviel wir auf dem Konto haben.“

„26“, antwortete er.

„Und auf dem Genossenschaftskonto liegt nichts mehr?“, fragte sie.

„Doch, etwas mehr als 10“, sagte er unwillig.

„Siehst du, Erich, damit ist es schon fast erledigt“, sagte sie regelrecht fröhlich. „Und Scholls sind einverstanden, dass wir abstottern.“

„Ja, und der Umzug?“, fragte er. „Du wolltest doch nach Wallisellen.“

„Nein, die Wohnung dort wäre nichts für uns“, sagte sie knapp. „Hier haben wir es besser.“

Danach schwiegen sie. Er begann die Schweinsöhrchen zu essen, sie hielt seine Hand.

„Findest du, ich habe Mist gebaut?“, fragte er endlich.

Gerda dachte nach, dann sagte sie: „Ich lebe jedenfalls gern mit dir. Und dass es manchmal drunter und drüber geht, mag ich inzwischen auch noch leiden.“