Tim Krohns Menschliche Regungen

Nörgelei(149)

Unterstützt von Gallus Frei-Tomic

Nachdem Selina erfahren hatte, dass Franks Frau einen regelrechten Bann über sie verhängt hatte, brauchte sie eine Weile, um ihre Gefühle zu ordnen. Trauer, Wut, Ohnmacht und Ärger waren die offensichtlichsten, dazu ein kleines bisschen Erleichterung, denn der Schritt, nach Berlin zu ziehen, wäre kein kleiner gewesen. Um sich Luft zu verschaffen, versuchte sie, Frank einen Brief zu schreiben, dann Joëlle. Aber irgendwie verfing sie sich immer in kleinlichen Vorwürfen. Ihre Gefühle waren groß und wogen schwer, doch auf dem Papier landete nur spießiges, plattes Geschimpfe, und schließlich pfefferte sie Block und Kugelschreiber in die Ecke, fluchte lauthals und fühlte sich danach im-merhin ein bisschen besser.
Sie zog den Pullover aus und begann das Bad zu putzen. Während sie dabei war, kam Julia über den Flur und fragte: "Wie hieß noch das Buch, das ich lesen soll? Unter Nacktes Deutschland finde ich nichts."
"Das hat sich schon erledigt", sagte sie, "mein gesamter Vorstoß war ein Rohrkrepierer." Und nachdem sie Julia die Geschichte ihrer Abfuhr erzählt hatte, sagte sie: "Das Schlimmste ist die Ohnmacht. Ein Mensch, den ich kaum kenne, verfügt über mein Leben, und ich darf mich nicht mal dazu äußern."
"Schreib wenigstens einen Brief", sagte Julia. "Dagegen kann niemand etwas haben."
"Das habe ich versucht", sagte Selina und zeigte ihr den Block. "Ich kriege nichts auch nur halbwegs Würdiges aufs Papier."
Julia überflog die Notizen und schlug vor: "Lass mich dir helfen. Ich muss nur schnell den Sugo auf niedrige Flamme stellen."
Sie ging in ihre Wohnung, und Selina machte sich wieder ans Putzen. Als es an der Haustür klingelte, rief sie nur: "Es ist immer noch offen", schrubbte weiter die Fliesen und erschrak, als Erich Wyss neben ihr stand.
"Wenn Sie zu dieser Tageszeit schimpfen wollen, Frau May", sagte er, "dann tun Sie es künftig im Schlafzimmer. Was Sie im Bad absondern, dringt ungefiltert durch den Abfluss."
Sie erhob sich, zog den Pullover an wieder und sagte harsch: "Ein meckernder Nachbar fehlt mir gerade noch." Dann sah sie, dass er zitterte und käsig aussah. "Ist Ihnen nicht gut?", fragte sie.
Er ignorierte ihre Frage. "Außerdem riecht es bei Ihnen nach Katzenklo", erklärte er. "Katzen sind in dieser Kolonie bewilligungspflichtig."
"Ich habe keine Katze", sagte Selina. "Nie gehabt. Eine Ratte, ja ..."
"Sehen Sie", rief er.
"Das ist aber fast ein Jahr her", fügte sie hinzu.
"Ich weiß ja nicht, wie oft Sie putzen", sagte Herr Wyss.
"Warum sind Sie hier", fragte sie gereizt, "um mich zu beschimpfen?"
"Für eine Schauspielerin drücken Sie sich beklem-mend ungenau aus", stellte er fest. "Ich habe nicht geschimpft, nur etwas angemerkt. Höchstens moniert. Geschimpft haben Sie, und wie gesagt, ich höre unten jedes Wort."
"Und deshalb sind Sie hier?", fragte sie abermals.
"Nein, ich brauche Hilfe mit etwas Kleingedrucktem von der Krankenkasse", sagte er. "Ich soll bezahlen und kann nicht lesen, was. Die schreiben das natürlich extra so klein." In diesem Moment kehrte Julia zurück.
"Ich komme nachher zu Ihnen runter", versprach Selina.
Doch Erich Wyss erklärte: "Ich müsste mich kurz setzen. Und der Arzt sagt, ich soll viel trinken. Ich bin nicht wählerisch, Wein, Bier ..." Während er redete, ging er ungebeten voraus und setzte sich in Selinas Küche.
Sie stellte ihm ein Glas Wasser hin, dann ging sie mit Julia ins Wohnzimmer.
"Zieh es so auf, dass du nur von dir sprichst", riet Julia. "Lass die beiden ganz raus, so vermeidest du das Kleingeistige. Was ist denn das Wichtigste, das du sagen möchtest?"
Die Frage brachte Selina gleich wieder auf hundertachtzig. "Dass sie Idioten sind und sich in einem kranken System einigeln", rief sie. "Dass sie den Kindern eine katastrophale Botschaft vermitteln, wenn sie ihre Konflikte unterm Deckel halten, statt sie offen und fair auszutragen."
"Falsch", meldete sich Erich Wyss aus der Küche. "Gerda und ich, wir haben nie vor Sepp gestritten. Nicht ein einziges Mal. Gerda sagte immer: Wer mit dem Streiten nicht warten kann, hat schon zugegeben, dass er unrecht hat."
"Wie alt sind Sie, Herr Wyss?", fragte Selina.
"82", sagte er, dann murmelte er: "Hoppla", und etwas klirrte. Als sie nachsah, stand er am Kühlschrank und aß von ihrer Weihnachtsschokolade.
"Sie stehlen", stellte sie entgeistert fest.
"Das ist höchstens stibitzen", erklärte er und setzte sich mit der Schokolade wieder. "Sie hätten mir ja ein Bier geben können. Ich brauche Zucker, sonst kippe ich um."
Julia war ihr nachgekommen. "Selina, so wird das nichts", sagte sie. "Andere Frage: Was willst du mit dem Brief erreichen? Ich würde mich auf einen Punkt konzentrieren, entweder den Film oder die Beziehung. Mehr Chancen hast du, wenn du dich an den Film hältst."
"Das sagst du aus reinem Eigennutz", behauptete Selina.
"Himmel, wie bist du denn drauf?", rief Julia. "Wenn wir mit Frank den Film machen, kommt ihr euch automatisch näher. Ist das so schwer zu begreifen? Was glaubst du, wieviele Ehen wurden schon auf einem Filmset zerstört?"
"Ich will ihre Ehe ja gar nicht zerstören", fauchte Selina, "die ist zerstört."
"Weißt du was? Ich mache erst mal Tee", sagte Julia und stellte sich an den Herd. Selina setzte sich solange zu Erich Wyss und aß Schokolade.
"Moment, wir teilen gerecht", rief er und brach drei annähernd gleiche Stücke.
"Geben Sie wenigstens Julia das größte", sagte Selina, "die hatte noch nichts."
"Esst sie allein, bei uns gibt es gleich Abendbrot", sagte Julia. "Ich warte nur noch darauf, dass meine Mutter Mona von einer Probestunde Ballett zurückbringt."
"Zu viel Süßes ist auch ungesund", sagte Erich Wyss und steckte Julias Portion in die Jackentasche.
Selina hatte inzwischen über Julias Frage nachgedacht. "Mein Traum war, nach Berlin zu fahren und dort richtig etwas zu bewirken", erzählte sie. "Ich hatte plötzlich das Gefühl, dort könnte alles aufgehen: Ich feiere mit Frank und seinen Söhnen Familie, wir drehen einen Welterfolg nach dem anderen, und ganz nebenbei entfachen wir in Deutschland wieder das Feuer, das die Zwanzigerjahre so groß gemacht hat."
"Du wirst zugeben, dass das ein etwas kindischer Traum war", sagte Julia und goss Tee ein.
"Warum sagst du das?", beschwerte sich Selina. "Es sind Menschen mit Visionen, die die Welt verändern, keine Sesselfurzer und Verwalter."
"Ich habe anno '45 in der Val Müstair den letzten Bären erlegt, das glaubt mir auch keiner", redete Erich Wyss dazwischen.
Und Julia sagte: "Ich schlage vor, du schreibst folgendes: Lieber Frank, liebe Joëlle. Ich glaube an Frank als Regisseur. Seine Stoffe sind wunderbare Rohlinge, und meine Drehbuchschreiberin Julia Som-mer macht daraus gerade etwas richtig Gutes. Frank muss diese Filme drehen. Der Welt zuliebe, die solche Filme braucht, und eurem Portemonnaie."
"Und wie soll ich sie produzieren, wenn ich ihn nicht sehen darf?", fragte Selina zynisch.
"Versteh doch, wenn du jetzt Größe zeigst, infizierst du sie damit", erklärte Julia mit offensichtlich letzter Geduld. "Der übelste Kleingeist wird großzügig, wenn man ihm großzügig begegnet und ihm - das ist noch wichtiger - edelmütige Motive unterstellt."
"Tue ich aber nicht", rief Selina, "mal ganz be-stimmt nicht Joëlle."
"Ich Ihnen auch nicht, Frau May", bemerkte Erich Wyss.
"Danke", sagte sie. "Meinetwegen, schreiben wir das so. Aber wie erreichen wir, dass Joëlle nicht gleich alles abklemmt? Wir müssen ein Prozedere vorschlagen, wie Frank und ich uns aus dem Weg gehen können. Ich brauche mich ja nicht daran zu halten."
"Pfui, du bist hier der Kleingeist", stellte Julia fest. "Gar nichts müssen wir. Schlag nur einen Zeitplan vor, und wenn du klug bist ..." Sie unterbrach sich und fragte: "Was ist Joëlle von Beruf?"
"Kamerafrau", antwortete Selina. "Aber die wirst du mir nicht unterjubeln."
"Doch", sagte Julia. "In welcher Funktion auch immer. Sag einfach, dass du dich freuen würdest, wenn sie irgendwie mitwirkt. Das kann genauso gut als Beraterin sein oder als Franks Assistentin."
"Ich begreife zwar nicht ganz, wovon Sie beide reden", mischte sich Erich Wyss wieder ein, "doch wenn Sie mich fragen, gehen Sie das völlig falsch an. Bargeld ist alles, was zählt. Gehen Sie zu diesen Menschen, wedeln Sie mit 10'000 in bar, und die knicken ein, glauben Sie mir. Da kennt der alte Wyss sich aus."
"Warum hast du ihn überhaupt hereingelassen?", fragte Julia.
"Habe ich nicht", antwortete Selina, "er ist einfach in die Wohnung spaziert."
Erich Wyss widersprach: "Sie lügen, wenn Sie den Mund aufmachen. Bestimmt halten Sie auch eine Kat-ze." Dann sagte er zu Julia: "Ich habe geklingelt, und sie hat ‚Herein' gerufen."
"Sie wollten etwas vorgelesen haben, richtig?", fragte Selina. "Zeigen Sie her, und danach lassen Sie uns allein." Doch Julia hatte sich schon erhoben und verabschiedete sich, um weiterzukochen.
Was Erich Wyss, mit Schokolade befleckt, aus der Jacke zog, kam nicht von einer Krankenkasse. Es war ein Merkblatt zur Vormundschaft betagter Personen, und an den Rand gekritzelt stand: "Denk darüber nach. Dein Sepp."
"Ihr Sohn will Sie unter Vormundschaft stellen", erklärte sie ihm.
"Unsinn, lesen Sie das Kleingedruckte", forderte er sie auf.
"Es gibt nichts Kleingedrucktes", sagte sie. "Aber er hat einen Absatz markiert, in dem es um Suizidgefährdung geht. Denken Sie daran, sich umzubringen?"
"Das hätte er wohl gern, der Affe", antwortete Erich Wyss. "Ehe ich mein Vermögen nicht verprasst habe, bringe ich mich nicht um. Und momentan fliegt mir alles zu. Ihre Schokolade hat übrigens einen pappigen Nachgeschmack, finden Sie nicht auch?"
"Das ist der Tee", erklärte sie, "und es ist nicht Pappe, sondern bester Sencha Fukuyu, Julia hat ihn nur zu heiß aufgebrüht."
"Ich finde es trotz allem schön, hier mit Ihnen zu sitzen", stellte er fest und lächelte sogar.
"Außer dass der Stuhl zu hart ist, stimmt's?", flachste sie, dann stand sie auf, um ihn zur Tür zu geleiten.
"Nein, hart sitzen härtet ab", sagte er und ließ sich von ihr hochziehen. "Das Licht ist es, was mich stört. Da installiert die Verwaltung uns auf allseitigen Wunsch schöne, helle Neonröhren, und Sie begnügen sich mit dieser Funzel. Kein Wunder, dass Sie meine Post nicht lesen können."