Tim Krohns Menschliche Regungen

Geist(115)

Unterstützt von Philipp Keel

Obwohl Jack gesagt hatte, er wolle nicht nur Julias Drehbuch hören, sondern dabei ihr Gesicht sehen, hielt er, während sie ihm vorlas, die ganze Zeit die Augen geschlossen, und sie war sich nicht sicher, ob er nicht schlief. Er regte sich auch nicht, als sie fertig war. Erst als sie die Blätter zusammenraffte und zurück in die Mappe schob, stemmte er sich aus dem Liegesessel hoch, sah sie an und sagte: „Das Buch ist so klar geschrieben, dass alles sich ganz mühelos vor dem inneren Auge entwickelt. Aber muss ein solcher Film überhaupt noch gedreht werden?“

„Oh, und ich fürchtete, es sei zu sperrig“, sagte Julia.

„Was daran könnte sperrig sein?“, wunderte sich Jack.

„Die Charaktere“, sagte sie. „Modisch sind sie jedenfalls nicht gerade.“

„Mode ist ein lokaler Begriff“, sagte Jack. „Wir hatten damals in der Schule eine Religionslehrerin, die so sexy war, dass alle Jungs Pfarrer werden wollten. Jedenfalls ist die Geschichte plausibel und auch relevant. Alltagssadismus ist einer der wunderbarsten menschlichen Auswüchse und in der Literatur bisher viel zu kurz gekommen. Und Bigotterie ist uns so eigen, dass wir sie gar nicht mehr erkennen. Gerade jetzt nach 9/11 treibt sie wieder aus. All die Betroffenheit und Empörung, ‚arme Opfer, böse Täter’ – als wären die Attentate nicht ein im Verhältnis fast zärtlicher Ausschlag eines Pendels, das wir Europäer vor tausend Jahren mit den Kreuzzügen ins Schwingen gebracht haben und seither immer wieder kräftig anstossen, mit den Entdeckerfahrten, dem Kolonialismus, den modernen Handelsmonopolen. Aber das gehört nicht hierher. Ich mag jedenfalls deine Katechetin, Julia, und wenn ich auch nicht sicher bin, dass das Drehbuch einen wirklich guten Film abgibt, gehe ich doch davon aus, dass er sich in den oberen zehn oder zwanzig Prozent ansiedeln wird. Ich sehe nur immer noch nicht, was ich für dich tun kann. Suchst du einen Produzenten? Suchst du Geld? Suchst du einen Regisseur? Und was sind das für andere Stoffe, die du erwähnt hast?“

Julia schilderte ihm die Lage, danach lehnte Jack sich abermals zurück, schloss die Augen und erklärte: „Treffen wir uns um vier Uhr zum Kaffee.“

„Gern“, sagte Julia, schnupperte noch eben am Nappaleder ihres Sessels, dessen Duft sie während des Vorlesens so angenehm begleitet hatte, und erhob sich.

Sie spazierte durchs Haus, um die Kunstwerke zu betrachten. Aber sie war auf sonderbar unterschwellige Art aufgewühlt und kühlte dann doch nur die Hände am Marmor der Balustrade, danach rief sie Moritz an, um zu erfahren, wie es Mona ging.

„Sie ist begeistert, dass du weg bist“, sagte er. „Wir haben bei mir gegessen und dabei Dinge erfunden, eine Sirupkuh zum Beispiel und ein Gerät, das dumme Jungs, die Mädchen an den Haaren ziehen, in Nackthautschneehasen verwandelt. Deine Tochter wünscht sich nichts sehnlicher, als dass du noch lange, lange fort bleibst.“

„Es ist tatsächlich möglich, dass ich erst spät nachts heimkomme“, sagte Julia. „Hältst du sie solange aus?“

„Ja“, sagte Moritz, „denn ich lerne viel. Mona hat gesunde Werte. Sie hat mir vorhin beigebracht, dass es wichtiger ist, Spaghetti lang zu lassen und zu schweinigeln als sie klein zu schneiden und manierlich zu bleiben. ‚Flecken gibt es dauernd, Moritz’, sagte sie, ‚aber stell dir vor, es gibt eines Tages keine langen Spaghetti mehr. Auf der ganzen Welt nicht.’ Dabei hat sie mich mit ihren großen Augen angesehen, und ich habe jetzt erst realisiert, wie wichtig Spaghetti für die Welt sind.“

Als sie auflegten, war es kaum halb vier. Julia setzte sich an den See, sah den flinken Elritzen zu und überlegte sich, was eigentlich wichtig für die Welt war und ob ihr Film dazugehörte.

Zur Kaffeestunde gab es dann gar nicht Kaffee, sondern russischen Weißtee und Birnbrot. Die Dörrbirnen kamen aus einem Familienbetrieb am Mauensee, sie waren im Holzofen gedörrt. „Früher wurde alles makelhafte Obst der Gegend kompostiert“, erzählte Jack. „Ich bin froh, dass ich jemanden gefunden habe, der das Dörren übernimmt. Ich habe den Ofen beigesteuert, dafür bekomme ich jetzt jedes Jahr ein paar Kilo Dörrobst. Ich wünschte, für deinen Film gäbe es eine so elegante Lösung.“

„Gibt es nicht?“, fragte Julia. Sie war nur mäßig traurig, denn ihr Herz schlug bereits für den nächsten Stoff, und irgendwie war es ihr fast lieber, wenn sich Jack später für ihren ersten Langspielfilm engagierte.

„Ich habe etwas telefoniert“, erzählte er. „Ich bin nicht der einzige, der den Schweizer Filmbetrieb mit einer gewissen Abscheu, oder sagen wir Distanz, betrachtet und nur zu gern ein Projekt unterstützen würde, das abseits des gängigen Markts entsteht. Leider hat fast jeder meiner Freunde direkt oder indirekt Geld in Swissair-Aktien angelegt. Auch fast alle gemischten Fonds enthalten Swissair-Beteiligungen, sie galten bisher als so sicher wie Bankanleihen. Geht die Swissair bankrott, sind sie um ein paar Millionen ärmer.“

„Da lobe ich mir mein leeres Konto“, sagte Julia. „Ich habe wenigstens nichts zu verlieren.“

„Mehr als sie“, widersprach Jack. „Die Reichen berappeln sich wieder, aber dein Kapital ist hier“ – er tippte sich an den Kopf –, „und ohne Investoren liegt es brach und stirbt. Du wirst selbst wissen, wie kurz die Halbwertszeit entstehender Kunst ist. Jede neue Idee erschlägt die vorhergehende. Das Ärgerlichste am Finanzdebakel aber ist, dass ein Bankrott wie der der Swissair zwangsläufig Aasgeier anzieht. Irgendeiner wird auch diesmal schamlos genug sein, die Konkursmasse allein zu dem Zweck aufzukaufen, Stück um Stück zu verscherbeln. Er wird sich daran eine goldene Nase verdienen, und schlimmer noch, er wird sich nicht nur für gewieft halten, sondern für genial, er wird mit seinem Vermögen protzen und so noch mehr Schaden anrichten. Unter anderem wird er sich auch mit Kultur schmücken, aber mit was für welcher. Außerdem wird er Firmen gründen, die auf schnellen Gewinn spezialisiert sind, Abwicklungen, Spekulationen, Wucher. Ein, zwei solche Leute genügen in einer kleinen Wirtschaft wie der schweizerischen, um sehr viel zu zerstören.“

„Aber warum wickeln dann nicht deine Freunde die Swissair ab?“, fragte Julia. „Dann bliebe das Geld doch an der Quelle.“

„Gute Frage“, sagte Jack. „Vielleicht, weil es fast zwangsläufig ein schmutziges Geschäft ist. Oder sagen wir so: Will man die Teilbetriebe wieder gut aufstellen, steckt man nochmals sehr viel Geld hinein. Allerdings gibt es immer auch tiefere Gründe, weshalb Betriebe Pleite gehen, irgendwo war schon der Wurm drin. So wie kranke Bäume anfälliger auf Schädlinge sind. Deshalb widmen sich meine Freunde lieber ihren eigenen Projekten, an die sie glauben und die sie von innen heraus kennen.“

„Mit anderen Worten, in Zeiten wie diesen stirbt auch eine Kunst wie meine?“, fragte Julia.

„Ja“, sagte Jack. „Doch vielleicht tröstet es dich, das solche Prozesse zyklisch ablaufen. In zwanzig, dreißig oder fünfzig Jahren schwimmt die gute Kunst wieder obenauf.“

„Danke, das tröstet in der Tat“, sagte Julia lachend.

„Und wie findest du das Birnbrot?“, fragte er. „Für einen tschechischen Koch ganz leidlich, oder?“

Danach redeten sie nicht mehr über Julias Drehbuch, und sie wollte schon ein Taxi rufen, als Jack sagte: „Nein, so gehst du mir nicht fort, Julia. Lass mich dir noch etwas zeigen.“

Er führte sie in einen Kellerraum, in dem vielleicht zwei Dutzend Holz- und Blechkisten gestapelt waren. Auf einem roh gezimmerten Tisch standen außerdem ein 16- und ein 35-mm-Filmprojektor, dahinter ein Stuhl. „Das ist der Nachlass, oder besser Vorlass, eines schwedischen Filmcutters“, erzählte er. „Er führte gelinde gesagt ein Lotterleben und starb entsprechend hässlich. Ich habe ihm die Sammlung abgekauft, als er schon sehr krank war und Geld zum Überleben brauchte. Seit seinen Anfängen beim Film in den späten Sechzigern hat er gesammelt, was beim Schneiden abfiel. Auch andere Cutter, Regieassistenten, Studioangestellte haben ihn beliefert, und auch da lief der Handel über Sex. Alles war sehr schmutzig. Egal, die Sammlung ist erstaunlich: Bergman, Lindberg, Hallström, Zetterling und wer nicht alles. Dazu kommen zwei Kisten mit Vorkriegsfilmen aus einer anderen Sammlung, die ich vor zwei Jahren ersteigert habe. Die sind allerdings ausgelagert, der Brandgefahr wegen, sie sind noch auf Zelluloid kopiert.“ Während er redete, legte er einen Filmstreifen ein und spielte ihn ab. Es war die nur Sekunden dauernde Darstellung einer Hand, die einen Apfel hält, in Schwarzweiß gedreht. Die Finger waren ausgesprochen zierlich, und die Flüchtigkeit des Filmmoments berührte Julia. Jack zeigte ihr danach noch zwei andere, darunter eine längere ausgespielte Sequenz aus Bergmans Szenen einer Ehe, die Julia wiedererkannte und die offensichtlich ausgemustert worden war, weil ein Härchen auf der Linse wehte.

„Natürlich fehlt überall der Ton“, sagte Jack. „Außerdem ist das alles noch urheberrechtlich geschützt und kann nicht öffentlich gezeigt werden respektive nur mit großem Aufwand. Auf Deutsch: Ich habe keine Ahnung, was ich damit anfangen soll.“

Dann wollte er wieder hochgehen. „Darf ich noch hier unten bleiben?“, fragte Julia.

„Das wäre mir sogar lieb“, sagte Jack, „dann kann ich mich noch etwas um meine eigenen Projekte kümmern.“ Er zeigte ihr, wie der 35-mm-Projektor funktionierte, und ließ sie allein.

Die Filmschnipsel hatten einen großen Sog. Das meiste war jeweils Vorlauf, Klappe und Nachlauf. Dazwischen lagen oft nur wenige Sekunden Spielfilm. Doch in diesen wenigen Sekunden Rohmaterial offenbarte sich jedes Mal eine so eigenständige, in sich so absolute und zugleich so magische Welt, dass jedes einzelne Restchen Julia als große Kunst erschien, als eine nicht im Umfang, doch in ihrem Gestus große Beschwörung der menschlichen Gnade, Kunst zu machen, Kunst zu sehen, die Welt zu verzaubern allein durch den Blick. Ein nicht mehr junger Mann fuhr beispielsweise Fahrrad, und hinter ihm flirrte ein Eisenzaun mit massigen Spitzen. Eine Taube versuchte sich zu kratzen, das fiel ihr nicht leicht, denn ihre eine Kralle war verkrüppelt. Ein Paar stritt sich, beide trugen gestreifte Pullover, und als sie sich endlich umarmten, standen sie so zwischen Liegestühlen, dass deren Lamellen die Streifen der Pullover wieder aufnahmen und die Stühle und das Paar wie eine etwas bizarre, doch harmonische Familie wirkten. Ein Stück Himmel, aus dem Auto heraus gefilmt, davor Telefonmasten in klarem Rhythmus und das Kabel, das sich darin zu wiegen schien, bis es plötzlich abbrach, und als der Blick der Kamera sich senkte, dehnte sich in großer Ruhe das graue, wolkenverhangene Meer. Ein Schwarm sterbender Fische wimmelte wohl auf dem Boden eines Kutters, davor ein lachender Junge mit dicker Strickmütze und Rotznase. Oder auch nur Hände, die am Objektiv nestelten, kaum als solche erkennbar, und danach mehr Staub als zuvor.

Manche Filmabfälle sah sich Julia mehrmals an, sie war ganz versunken. Als sie entdeckte, dass ihr Handy im Keller keinen Empfang hatte, erschrak sie, denn ihr war, als müsste es schon später Abend sein. Dann sah sie, dass sie kaum eine Stunde allein gewesen war.

Sie ging hoch, um Moritz anzurufen und zu hören, ob alles okay war. „Ich möchte gern noch bleiben“, sagte sie, „vielleicht sogar über Nacht.“

„Tu das“, sagte Moritz, „man gönnt sich ja sonst nichts. Ich schlafe in deinem Bett, wenn es dir recht ist.“

„Dort, wo ich sein werde, habe ich keinen Empfang“, sagte sie noch, „ich werde aber regelmäßig hoch gehen und nachsehen, ob du mir geschrieben hast.“

„Alles cool“, sagte Moritz. „Ich schreibe dir auf alle Fälle. Nicht dass du noch meinst, sie hätte mein Handy verschluckt.“

Das Abendessen war erst auf halb sieben angesetzt, und als Julia noch durch die Gänge streifte, hörte sie vom Dachgschoss her Musik, eine Art Flöte, doch nicht wie westliche Flöten, und auch die Tonfolge war kaum als Melodie zu erkennen. Vor allem waren es lange, sonderbar verzogene Töne, zwischen denen ebenso viel Schweigen lag. Die Musik wirkte auf Julia – vielleicht nur des Augenblicks wegen – ganz ähnlich wie die Filmabschnitte. Beides, die Flötenmusik und die stummen, harschen Filmfragmente, hatte etwas so Ewiges wie Flüchtiges, etwas geradeso Verschwenderisches wie aufs Wesentliche Reduziertes – nein, vielleicht noch nicht einmal aufs Wesentliche. Vielleicht waren die Filmabfälle und die Flötentöne ihrer großen Präsenz zum Trotz völlig unwesentlich und eben darin das treffendste Bild des Lebens.

All das fühlte Julia mehr, als dass sie es dachte, während sie auf einer Treppenstufe saß und die Klänge ebenso aufsog wie den Geruch des Hauses, die Stille, als die Flöte schließlich endgültig schwieg, die wachsende Dämmerung und zuletzt das Knarren einer Tür im Dachstock.

„Ich bin gerade sehr glücklich“, sagte sie, als Jack die Treppe herab kam – wieder im Kimono.

„Ach“, seufzte er, „und ich habe mit meiner Flöte gekämpft. Es gibt Tage, an denen möchte sie nicht gestört werden, heute war so ein Tag. Nur habe ich nicht sehr oft Zeit zu üben, und übermorgen kommt mein Meister, um mich zu unterrichten.“

„Dein Meister“, wiederholte sie lachend, während sie ihm ins Parterre folgte, „erzähl mir mehr. Was ist das für eine Flöte? Wie kommt es, dass du sie spielst?“

„Es riecht nach Königsberger Klopsen“, sagte er stattdessen. „Das erinnert mich an meine frühen Jahre in Polen, lange vor der Wende. Der Geruch von Braunkohle, Kochgas und Königsberger Klopsen ... Damals litt ich darunter, heute werde ich sentimental. Das Hirn des Menschen ist wie eine Zauberkugel: Wenn man sie zu wecken versteht, wird darin alles magisch, selbst das Profanste. Aber du hattest nach der Flöte gefragt.“

„Nein, nein“, sagte Julia, „erzähl weiter von Polen. Ach, mich interessiert alles!“