Tim Krohns Menschliche Regungen

Lebendigkeit(48)

Unterstützt von Brigitte & Rainer Menzel

Der Sturz ihres Mannes hatte Gerda Wyss in einem Ausmaß verunsichert, das sie selbst zu Anfang gar nicht begriff. Erst als ihre Friseurin zu Besuch kam – Frau Mariani richtete ihr seit drei Jahren zweimal monatlich das Haar und machte Pediküre – und sie spontan sagte: »Ich glaube, heute lassen wir das Tönen aus«, erkannte sie, wie groß der Umbruch in ihrem Leben war.

»Was meinen Sie mit ›auslassen‹?«, fragte Frau Mariani. »Den Haaransatz werde ich doch wohl angleichen dürfen.«

»Nein«, widersprach Gerda, »ich möchte die Farbe gern herauswachsen lassen.«

»Das ist nicht so einfach«, sagte Frau Mariani. »Dann muss ich Ihnen Strähnen machen, erst ein paar, dann immer mehr, damit die Sache einigermaßen natürlich wirkt. Sonst sieht es furchtbar aus.«

Das sah Gerda ein, aber trotzdem wollte sie keine Farbe mehr auf ihrem Kopf.

»Fragen wir Ihren Mann«, schlug Frau Mariani vor.

Der sagte allerdings nur: »Wir sind in einem Alter, Frau Mariani, in dem man sich von vielem verabschiedet. Wenn meine Frau eine modische Frisur für nicht mehr nötig hält, kann ich gut damit leben.«

»Darum geht es aber gar nicht, Erich, im Gegenteil«, sagte Gerda.

Das verstand nun Erich so wenig wie Frau Mariani, und Gerda konnte es auch schlecht erklären.

Erst nachts – nachdem Frau Mariani ihren Haaransatz nochmals hatte nachtönen dürfen – sagte sie: »Erich? Ich hofe, ich habe dich jetzt nicht geweckt.«

»Nein, nein«, sagte er.

Nachdem Gerda nochmals ihre Gedanken geordnet hatte, sagte sie: »Ich glaube, ich fühle mich jünger, wenn ich das Haar nicht färbe. Nein, nicht jünger – ach, siehst du, jetzt kriege ich es doch nicht hin. Im Kopf war alles schon ganz klar.«

»Dann denk noch mal in Ruhe nach«, schlug er vor und nahm ihre Hand.

»Ja«, sagte sie, und nach einigen Minuten wusste sie es besser. »Seit du auf der Treppe gestürzt bist, Erich, bist du nicht mehr derselbe. Warte«, bat sie, als sie fühlte, dass er die Hand zurückziehen wollte. »Du bist zerbrechlicher geworden, ängstlicher. Ich weiß, dass du dich so nicht magst, aber mir gefällst du sehr gut. Irgendwie ist dadurch alles weicher geworden, wenn du weißt, was ich meine. Wir hatten so viele Gewohnheiten, nicht nur im Alltag, auch im Denken. Wir hielten vieles für gegeben und haben uns gar nicht mehr gefragt, ob wir wirklich dieser Meinung sind.«

»Was zum Beispiel?«, fragte er skeptisch.

»Wir kaufen beispielsweise jede Woche Galakäse«, sagte sie. »Vor zwanzig Jahren haben wir ihn geliebt ...«

»Das ist noch keine zwanzig Jahre her«, sagte er, »schon falsch. Das war 1990, als wir das letzte Mal bei Sepp in Berlin waren. Da hat diese Deutsche, die immer den Buben gehütet hat, so sehr vom Schweizer Galakäse geschwärmt, dass wir ihr ein Päckchen schicken wollten, als wir zurück waren. Aber dann war diese Geschichte, die zu Sepps Scheidung führte, und irgendwann haben wir ihn selbst gegessen. Seit damals kaufe ich dir Galakäse. Ich mochte ihn schon damals nicht besonders leiden.«

Gerda stutzte. »Siehst du, das meine ich. Ich habe ihn immer auf die Einkaufsliste gesetzt, weil ich dachte, du magst ihn. Jetzt bin ich froh, dass wir darüber geredet haben.«

»Ja, ich auch«, sagte er. »Aber was soll ich denn nun kaufen? Etwas aufs Brot brauchen wir.«

Sie diskutierten länger über verschiedene Käsesorten und einigten sich darauf, es wieder einmal mit Ziger zu probieren, der leicht und fettfrei war, außerdem hatten beide das Glarnerland in schöner Erinnerung.

»Ich werde beim nächsten Einkauf daran denken«, versprach er.

»Ich werde es dir aufschreiben«, sagte Gerda, und sie hatten einander schon zum zweiten Mal eine gute Nacht gewünscht, als Gerda einfiel, dass sie noch gar nicht gesagt hatte, was sie hatte sagen wollen. »Erich?«, sagte sie wieder.

»Bist du noch wach?«, fragte er.

»Ich hofe, du hast noch nicht geschlafen«, sagte sie. »Was ich vorhin eigentlich sagen wollte, ist, dass ich mich jetzt mehr um dich sorge. Und jetzt sag nicht gleich wieder etwas, sondern hör nur zu. Ich freue mich nämlich darüber. Ich habe das Gefühl, wir sind uns näher als davor.«

»Als wovor?«, fragte er.

»Als vor deinem Sturz, ich rede von der Zeit seit deinem Sturz«, erinnerte sie ihn.

»Ach ja«, sagte er. »Ich würde ihn gern vergessen, es war nichts weiter als ein dummer Sturz.«

»Mag sein«, sagte Gerda, »aber fühlst du es nicht auch? Wir büscheln uns gerade neu, wenn man das so nennen kann. Und das ist schön. Ich glaube, wir machen eine Entwicklung durch. Ich jedenfalls fühle mich anders, irgendwie wacher. Ich denke über alles mehr nach.«

»Aha«, sagte er. »Vor allem über dein Haar.«

»Das ist bei Frauen nun mal so«, erklärte Gerda, »wenn sie sich entwickeln, ändern sie als Erstes die Frisur.«

»Das wusste ich nicht. Männer tun das nicht, so viel ich weiß«, antwortete er.

»Doch, Sepp ließ sich damals einen Bart wachsen«, sagte sie. »Und Augustin hatte mal lange Haare, damit wollte er sicher auch etwas sagen.«

»Der Affe«, sagte Erich und wollte sich gleich wieder aufregen.

Doch Gerda nahm seine Hand und sagte: »Erich, jetzt geht es nicht um Augustin, jetzt geht es um uns.«

»Meinetwegen, aber ein Affe ist er trotzdem«, wiederholte Erich.

Gerda ging darauf nicht ein. »Denkst du noch manchmal daran, dass wir Mann und Frau sind?«, fragte sie. »Ich meine, dass du ein Mann bist und ich eine Frau? Ich muss jetzt viel daran denken. Ich hatte mich so viele Jahre nicht mehr wie eine Frau gefühlt, jetzt schon. Seit ich mich um dich sorge. Ich habe mich in all den Jahren auch oft gefragt: Wen liebe ich da eigentlich? Doch seit deinem Sturz weiß ich das ganz genau. Ich sehe dich fast wieder so, wie ich dich vor sechzig Jahren sah. Außer dass ich kein Tüpfi mehr bin. Damals war ich vor allem stolz auf dich, und auf mich, dass ich dich geangelt hatte. Heute ist es viel tiefer ...«

»Moment«, unterbrach sie Erich, »wer hat da wen geangelt?«

Sie lachte. »Natürlich ich dich«, sagte sie nochmals. »Es ist immer die Frau, die wählt. Ihr Männer merkt das nur nicht.«

»Selbstverständlich, wir sind ja auch nur Totsche«, rief er.

»Ja, das seid ihr«, antwortete Gerda fröhlich, »und das macht euch auch so stark. Nun hör aber endlich auf zu schmollen, ich will dir nämlich etwas ganz, ganz Schönes sagen.«

»Ich höre ja zu«, sagte er. »Es geht um deine neue Frisur.«

»Ja, und darum, dass ich dich liebe«, sagte Gerda. »Die Sache ist nämlich die: Ich habe gemerkt, dass ich dich als Frau mit gefärbtem Haar gar nicht so lieben kann, wie ich dich lieben möchte. Du hast mit deinem Sturz etwas verloren, das ich lange Zeit für schick hielt, aber nun, da es weg ist, bin ich froh darüber.«

»Und was soll das sein?«, fragte er misstrauisch.

»Eine Attitüde«, antwortete sie, »sagt man so? Du bist dir selbst gegenüber viel unsicherer geworden, das macht dich schön. Deine Verletzlichkeit ist schön.«

Er brummelte etwas.

»Doch, doch«, sagte sie. »Und deshalb werde ich mein Haar ab sofort nicht mehr färben. Ich will auch so offen und verletzlich sein. Ich will auch die Frau sein, die ich eigentlich bin, und niemandem mehr etwas vormachen.« Danach schwieg sie, und weil auch Erich schwieg, sagte sie schließlich: »Jetzt darfst du reden.«

»Was soll ich denn sagen?«, fragte er.

»Zum Beispiel, dass du mich mutig findest«, schlug sie vor. »Oder dass du mich auch liebst.«

»Das weißt du doch alles«, sagte er. »Und ob du jetzt gefärbtes oder ungefärbtes Haar hast, ist mir gleich. Ich finde auch gar nicht, dass ich mich verändert habe. Ich werde mich schon wieder fangen.«

Gerda dachte nochmals nach. »Es hat mit Nacktheit zu tun«, sagte sie endlich. »Wir waren nie richtig nackt voreinander.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst«, sagte Erich ungeduldig. »Im Badezimmer sind wir doch fast immer nackt.«

»Ja, aber im Bett nicht«, sagte sie. »Wir sollten einmal wieder nackt zu Bett gehen.«

»Das haben wir früher oft getan, ich verstehe nicht, was daran neu sein soll.«

Gerda sagte: »Damals waren wir auf andere Art nicht nackt, Erich. Das sind wir erst jetzt. Aber ich sehe schon, ich kann es nicht erklären. Oder willst du nicht begreifen?«

»Was nicht begreifen?«, fragte er gereizt. »Meinetwegen gehen wir morgen nackt schlafen! Ich kann nur nicht kapieren, was das mit deinem Haar zu tun hat. Im Dunkeln sehe ich es sowieso nicht!«

»Ich glaube, wir sagen uns jetzt gute Nacht«, schlug Gerda vor, und Erich war dafür sehr dankbar.