Tim Krohns Menschliche Regungen

Kränkung(12)

Unterstützt von Peter Zumthor

Bei Laubfall, Nieselregen oder Neuschnee das Sechsertram zu lenken, war eine Kunst für sich, die nur gelang, wenn man dem Getriebe lauschen konnte wie ein Trapper. Das wusste keiner besser als Hubert Brechbühl, den sie den Kletterkönig genannt hatten. Bei keinem spulten die Räder so selten wie bei ihm, keiner nahm die heikle Spitzkurve in der Weinbergstrasse mit so viel Gefühl. Er war es, der junge Kollegen ins Bergfahren einführte, und nicht nur in Zürich. Von überallher in der Schweiz kamen Tramchaufeure und Kenner, um sich einmal von ihm hoch zur Haltestelle Zoo und wieder »z’Tal«, wie es im Jargon hieß, kutschieren zu lassen. Dass Kinder das Tramfahren lieben, ist bekannt, doch in seinem Tram versperrten ihnen oft die Frauen die Sicht, die eine ganze Fahrt lang hinter ihm standen, und hätte er nur gewollt, hätte er jeden Abend eine heimnehmen können. Aber so einer war er nicht, er führte höchstens mal eine mittags zur Bratwurst in den Vorderen Sternen aus. Ein einziges Mal ging er mit einer danach noch ins Kino, doch als sie ihm den Hosenladen öfnen wollte, sagte er ihr klipp und klar, dass er als Tramchaufeur ein Vorbild sei und nicht in einem Kino hudeln könne oder wolle.

Er war auch der Letzte, der alle Ce 4/4 (später Be 4/4 76 genannt) gefahren hatte, den »Elefanten«, auf dem der Chauffeur noch im Velosattel hockte, wenn er nicht gleich stehen blieb, so gut wie den »Geißbock«, das »Kurbeli« und den »Pedaler«, der auch »Schweizer Standardwagen« hieß und neben Zürich auch in Genf, Luzern, Bern, Basel und in Neuenburg zum Einsatz kam. Überallhin riefen sie ihn, wenn eine Strecke Probleme machte – nur die Welschen meinten, sie könnten es ohne ihn. Sonst hieß es überall in der Schweiz: »Bevor ihr ein Trassee versetzt oder am Fahrgestell herumschweißt, setzt den Brechbühl in den Führerstand und lasst ihn eine Runde fahren.« Sogar in Pjöngjang, Nordkorea, war er gewesen. Dort blochten sie in ausrangierten Zürcher Trams wie die Teufel die Kümusanlinie entlang, doch sabeom Brechbühl brachte ihnen bei, das Material zu schonen. Die Achsen und die heiklen Rotationskompressoren waren die Schwachstellen, dafür war die Elektrik unverwüstlich, nicht wie die Elektronik bei den neuen Zweitausendern.

Zuletzt war er dreizehn Jahre lang den »Karpfen« gefahren. Dann hatte sich sein Rücken bemerkbar gemacht. Das war eine Berufskrankheit, die einen plagte der Rücken, die anderen die Psyche. Seine Psyche war so zuverlässig wie die Triebwagenelektrik. Kunststück, er hatte auch nie Unfälle gebaut, zumindest nichts Belastendes, höchstens Blechschaden, oder mal ein Velotubel, der meinte, die Verkehrsregeln gälten nicht für ihn, und der sich ein paar Schrammen holte. Einer hatte ein Loch im Kopf.

Seinem Rücken aber setzten die alten Trams mit ihrer direkten Stoßübertragung schon zu, und besonders beim Hangfahren. Bergauf spürte er zuerst nicht viel, bergab jedoch, wenn er sich gegen die Schwerkraft stemmen musste, wurde es die Hölle. In einem Be 2/4 »Pony« mit schwimmend gelagertem Fahrersitz hätte er womöglich durchgehalten bis 65, das wollte er sich aber nicht mehr antun.

Zum Abschied erhielt er zum lebenslangen Generalabonnement der Schweizer Bahnen hinzu ein Modell des »Karpfens«, auf eine Miniatur des Matterhorns geklebt, darunter stand: »Dem Kletterkönig Hubert Brechbühl«. Das löste schon Gefühle aus, obwohl er lieber den Glärnisch gehabt hätte – Vrenelis Gärtli, um genau zu sein –, das sah man nämlich, wenn man die Krähbühlstrasse hoch zum Zoo fuhr. Außerdem erhielt er noch ein Dokument, in dem man ihn formell einlud, im Züricher Trammuseum mitzuarbeiten. Das hatte er allerdings abgelehnt: »Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende«, hatte er gleich bei der Übergabe gesagt und sie damit zum Lachen gebracht.

Doch vielleicht war eben das sein Fehler gewesen. Denn als er jetzt die Zeitschrift Endstation Ostring aufschlug (nachdem sie einen Monat herumgelegen hatte) und für den Februar ein Trämlersymposium in Bern angekündigt fand, »Zur Geschichte des Schweizer Standardwagens und seiner Vorläufer«, fehlte in der Liste der Referenten sein Name. Die Hälfte der Redner kannte er überhaupt nicht, und die, die er kannte, waren alles andere als Experten. Trotzdem wollte er nicht gleich beleidigt tun, vielleicht hatte es mit dem Jahrtausendwechsel ja doch eine kleine Datenpanne gegeben. So wählte er die Telefonnummer, unter der man sich anmelden sollte, und bekam einen »Steiger, Martin« an den Apparat.

»Hier ist Brechbühl, Hubert Brechbühl«, sagte er und wartete darauf, dass drüben der Groschen fiel. Doch sein Name schien dem Steiger, Martin nichts zu sagen. »Ich rufe wegen dem Symposium zum Standardwagen an«, sagte er noch.

»Wollen Sie sich anmelden?«, fragte der andere.

»Ich bin der Kletterkönig«, sagte Hubert Brechbühl.

»Ich verstehe nicht, wollen Sie sich anmelden?«, fragte der andere wieder.

»Ich war Instrukteur auf dem Standardwagen«, erklärte ihm Hubert Brechbühl. »Und auf dem Geißbock. Und dem Elefanten. Und dem Kurbeli. Und dem Pedaler. Ich war in Pjöngjang, Nordkorea, um denen das Tramfahren beizubringen.«

»Wollen Sie sich anmelden?«, fragte der Steiger, Martin zum dritten Mal. »Dann schicke ich Ihnen einen Einzahlungsschein. Sie überweisen siebzig Franken, und der Coupon ist Ihre Eintrittskarte.«

»Ich denke nicht daran zu zahlen«, sagte Hubert Brechbühl in höflichem Ton. »Ich bin der Kompetenteste von allen. Offenbar gab es eine Panne, irgendwie hat man mich nicht erreicht. Ich werde jedenfalls auch sprechen.«

»Das Rednertableau ist längst besetzt«, antwortete der andere, »und wir haben alle relevanten Themen abgedeckt. Sie können sich natürlich aus dem Publikum heraus beteiligen, darauf hoffen wir sogar. Ein lebhaftes Publikum ist das Sine qua non jeder Veranstaltung.«

»Sie wissen nicht, wovon Sie reden.« Hubert Brechbühl bemühte sich noch immer, ruhig zu bleiben. »Da können Sie sich noch so geschwollen ausdrücken. Eine Fachtagung zum Standardwagen ohne den Kletterkönig ist keine Fachtagung.« 
»Dann freue ich mich, dass Sie sich anmelden wollen«, sagte der andere.

»Ich habe nicht angerufen, um mich anzumelden, ich wollte Ihnen helfen, mich zu finden«, sagte Hubert Brechbühl. »Ich verstehe ja, dass Ihr Programm feststeht. Aber es gibt da mindestens zwei Podiumsgespräche, auf denen ich gut Platz fände. Zur Umstellung von Elektrik auf Elektronik beispielsweise hätte ich schon etwas zu sagen ...«

»Die Podien sind ebenfalls schon kompetent besetzt«, unterbrach ihn der Steiger, Martin. »Geben Sie mir Ihre Adresse, und ich sende Ihnen den Einzahlungsschein.«

»Wer sind Sie überhaupt?«, fragte Hubert Brechbühl stattdessen.

Der andere war Präsident des Fördervereins zur Gründung eines Gesamtschweizerischen Trammuseums, das in Bern geplant war und zweifellos dem Zürcher Museum den Rang ablaufen wollte.

»Ich werde nicht einzahlen«, erklärte Hubert Brechbühl. »Und wenn Sie mich doch noch einladen wollen, finden Sie viele, die sehr gut wissen, wer ich bin und wo ich wohne.« Dann legte er auf.

Als Nächstes schickte er einen Leserbrief an die Zeitschrift Endstation Ostring, genauer an den Redakteur Max Frick, ehemaliger Leiter der Berner Verkehrsbetriebe, den er zwar nie gemocht hatte, der aber wenigstens einer der alten Garde war. Er schilderte den Vorgang so sachlich als möglich und erinnerte daran, dass die Endstation Ostring ihn zwar nie porträtiert hatte, die Zeitschrift Tram dafür gleich zweimal: einmal, als er nach Nordkorea gefahren war, und nochmals kurz vor seiner Pensionierung.

»Tut mir leid, lieber Herr Hubacher«, schrieb dessen Frau zurück (sie schrieb tatsächlich Hubacher), »die Dezembernummer von Endstation Ostring war die letzte, wie Sie dem Leitartikel hätten entnehmen können. Die Zeitschrift ist eingestellt. Mein Mann, der Sie im Übrigen sehr schätzte, liegt auf der Onkologie und ist nicht in der Lage, sie weiterzuführen. Er lässt aber herzlich grüßen. Hochachtungsvoll, Maria Frick.«

Das tat ihm weh, und er sandte eine Karte, die einmal im Restaurant Bauschänzli verteilt worden war. Er hatte keine andere im Haus, aber sie erschien ihm auch passend. Sie zeigte einen betrunkenen Dackel mit einem Bierhumpen zwischen den Pfoten, darunter stand: »Der Krug geht zum Brunnen, bis er bricht.«

»Kopf hoch, lieber Max Frick«, schrieb er auf die Rückseite, »Sie hinterlassen ein würdiges Werk.«

Überhaupt hatte der Zwischenfall ihn versöhnlich gestimmt, und am letzten Tag des Symposiums, einem Sonntag, beschloss er spontan, nach Bern zu fahren und gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

Man traf sich in der Tramremise Weissenbühl. Als er kam, war gerade eine Pause zu Ende. Er entdeckte einige bekannte Gesichter, doch ehe er jemanden ansprechen konnte, schellte eine alte Tramglocke, und alle gingen hinein. Das wollte er auch tun, doch ein Mann, der einen lächerlichen Musketierbart und – trotz des Matsches und der Kälte – spitze Lackschuhe trug, hielt ihn zurück: »Sie habe ich hier noch nicht gesehen«, sagte er. »Haben Sie einen Coupon?«

»Ich bin Hubert Brechbühl«, erklärte er. »Die meisten werden mich kennen, zumindest die Älteren. Ich war die anderen Tage nicht dabei, ich komme nur kurz, um zu grüßen und vielleicht etwas Erhellendes zu den Be 4/4 beizutragen, die ich alle noch gefahren habe.«

»Der Eintritt kostet 70 Franken«, sagte der andere nur. »Wir brauchen das Geld für die Gründung des Museums.«

»Das ist absurd«, sagte Hubert Brechbühl. »Das Symposium ist doch gleich vorbei.«

»Was kann ich dafür, wenn Sie zu spät kommen?«, fragte der andere.

»Sie müssen der Steiger, Martin sein, mit Ihnen werde ich nicht diskutieren«, sagte Hubert Brechbühl. »Gehen Sie hinein, sagen Sie denen, dass ich draußen bin, und Sie werden sich wundern, wer danach mehr Publikum hat, Sie oder ich.«

Der andere wandte sich nur schweigend ab, um Prospekte vom Empfangstisch abzuräumen.

Hubert Brechbühl erwog noch, sich gewaltsam Zutritt zu verschafen, doch dann wandte er sich auch um und nahm das nächste Dreiertram zum Bahnhof.