Tim Krohns Menschliche Regungen

Genialität(111)

Unterstützt von Hans Wiederkehr

Die Aufregung war groß, auch wenn Ror Normann angekündigt hatte, nur auf einen Sprung vorbeizuschauen, und nicht mit guter Nachricht. Immerhin hatte Julia ihn überreden können, zum Abendbrot zu bleiben, denn Mona war nach dem Kindergarten noch mit ihrer Oma unterwegs und wollte „Rohrmann“ unbedingt auch sehen.

Julia hatte vorgekocht und eine Lasagne im Ofen. Als er kam, setzten sie sich ins Wohnzimmer, und Ror sagte: „Was du aus dem Flugzeugbüchlein gemacht hast, ist großartig, Julia, dein Text ist toll. Und natürlich ist es bedauerlich, dass es nicht so bald erscheinen wird. Aber im Grunde spielt es für mich keine Rolle, jedenfalls keine so große, dass ich auf Biegen und Brechen ein weiteres Projekt würde einschieben wollen.“

„Für uns schon“, sagte Julia offen. „Ich werde erst bei Erscheinen bezahlt. Das heißt, wir müssen unsere Ferien streichen, und nicht nur das.“

„Oh, das tut mir leid zu hören“, sagte Ror. „Aber ich arbeite auch als wissenschaftlicher Zeichner für das Zoologische Museum, und wir haben bald Eröffnung mit einer Sonderausstellung. Mir steht die Arbeit jetzt schon bis zum Hals.“

Dann platzte Mona herein. Ihre Oma hatte sie nur unten abgesetzt, in Mäntelchen und Gummistiefeln kletterte sie aufs Sofa und rief: „Rohrmann ist da, jetzt machen wir das Buch!“

Julia zog sie erst mal aus. „Ror hat leider keine Zeit“, erklärte sie. „Er hat ganz viel anderes zu tun.“

„Quatsch“, sagte Mona zu Ror, „wir haben die Geschichte ganz schnell vor dem Einschlafen erfunden. Bestimmt kannst du sie auch schnell vor dem Einschlafen malen.“

Doch Ror Normann war für seinen akribischen Stil bekannt, und daher sagte er: „Ich bin furchtbar langsam, Mona, ich brauche mindestens einen Tag pro Bild, und soviel Zeit habe ich nicht.“

„Rohrmann gefällt unsere Geschichte nicht“, sagte Mona und zog einen Flunsch.

„Doch, sogar sehr“, sagte Ror. „Außer dass ich mir unter den gebastelten Vögeln nicht viel vorstellen kann.“

„Die kann ich dir zeigen“, sagte Mona, sprang vom Sofa und zog ihn in ihr Zimmer, wo Moritz’ Vögel an der Lampe hingen. „Das sind sie“, sagte sie. Ror staunte.

„Die sind toll, wer hat die gemacht?“, fragte er.

„Na, eben Moritz“, rief Mona. „Hast du die Geschichte gelesen oder nicht?“

Behutsam hatte Ror inzwischen einen abgenommen und bewegte seine Flügel. „Können sie fliegen?“, fragte er.

„Mama, Rohrmann hat die Geschichte gar nicht gelesen“, rief Mona. Julia stand in der Tür und sah zu.

„Doch, habe ich“, sagte Ror, „ich wage nur nicht, einen zu werfen.“

„Dann tue ich es“, sagte Mona, nahm ihm den Vogel weg und warf ihn. Er stürzte regelrecht ab.

Ror lachte. „Großartig“, sagte er. „Könnte er auch noch fliegen, wäre das schon unheimlich.“

„Ich muss in die Küche“, sagte Julia und ging voraus, die anderen folgten.

„Kann ich diesen Vogelbauer kennenlernen?“, fragte Ror.

„Ich rufe ihn mal an“, sagte Julia. „Jemand will dich kennenlernen“, sagte sie, als Moritz abnahm. „Und falls du Wein zuhause hast, bring ihn doch bitte mit.“

Moritz kam gleich hoch. „Ich habe nur noch einen Schluck Burgwegler“, erklärte er, „aber den könnt ihr euch teilen. Mir reicht mein Kater von gestern.“

Julia stellte Ror und Moritz einander vor, legte noch ein Gedeck dazu und bat alle zu Tisch. „Ror hätte Monas Geschichte illustrieren sollen“, erzählte sie Moritz, „er ist unser Lieblingszeichner. Aber wie alle guten Leute hat er keine Zeit.“

„Schade, denn es ist eine schöne Geschichte“, sagte Moritz. „Natürlich hätte ich lieber gesehen, sie flögen zum Schluss auf einem meiner Vögel nach Sizilien oder Afrika. Doch ich habe sicher hundert Stück gebaut, und nicht einer flog.“

„Dann bist du wirklich so ein Spinner wie der Junge im Buch?“, fragte Ror und fand das großartig. „Kann ich die alle mal sehen?“

„Nicht, bevor ihr aufgegessen habt“, sagte Julia.

„Und der Wein getrunken ist“, ergänzte Ror. „Der ist gar nicht übel.“

Nach dem Essen gingen alle vier hinab in Moritz’ Wohnung, und er zeigte Ror nicht nur die zwanzig Vögel, die er aufbewahrt hatte, sondern fast alle seine Experimente.

Ror war begeistert wie ein Kind. „Ich sehe den Jungen im Buch jetzt ganz klar“, sagte er, und schließlich nahm er sich Papier und Bleistift und warf mit ein paar Strichen einen kleinen Jungen auf das Blatt, der so ganz wie Moritz war, dass Mona vor Vergnügen quietschte.

„Und wie sieht sein Laden aus?“, fragte sie.

Wieder brauchte Ror nur ein paar Striche, und der Laden stand. Dann zeichnete er nochmals einen kleinen Moritz zwischen die Regale, und zuoberst ins Regal eine Maus, die auf ihn hinuntersah.

„Die kommt in der Geschichte aber nicht vor“, stellte Mona klar.

„Die brauche ich für die Perspektive“, erklärte Ror. „So wirken die Regale höher und der Moritz noch verlorener.“

„Armer Moritz“, sagte Mona. „Jetzt Frau Friedrich.“

„Ist das die, der der Vogel auf den Kopf fällt?“, fragte Ror und zeichnete sie auf einer Lambretta.

„Meine Frau Friedrich geht zu Fuß“, sagte Mona, „aber egal. Nur wo ist der Vogel?“

„Den stellst du dir vor“, sagte Ror. „Manches muss man gar nicht zeichnen.“

„Stimmt, ich sehe ihn“, rief Mona.

Währenddessen hatte Ror begonnen, die Hände des kleinen Moritz zu zeichnen, wie sie einen Vogel falteten. Für die Hände genügten wieder einige Striche, den Vogel selbst malte er mit fast wissenschaftlicher Genauigkeit. Trotzdem war er ziemlich schnell. „Das könnte ein Prinzip sein“, sagte er, während er die Zeichnung ausschraffierte: „Die Vögel zeichne ich aus, alles übrige wird nur angerissen. Wie der kleine Moritz fast alle Aufmerksamkeit seinen Vögeln schenkt und kaum die Welt um sich herum wahrnimmt.“

„Aber wie passt dazu das Mäuschen?“, fragte Julia. „Das würde er wohl auch nicht wahrnehmen.“

Ror dachte nach, dann sagte er: „Ich weiß nicht, aber es passt.“

„Das Mäuschen sind wir“, schlug Moritz vor. „Die Geschichte braucht einen Betrachter.“

„Genau“, sagte Ror, „danke.“ Und nachdem er gezeichnet hatte, wie ein Vogel ins Gebüsch fiel – er zeichnete ihn ganz nah, wie er in den Ästen eines Rosenbäumchens hing –, stellte er fest: „Wir sind ein richtig gutes Team.“

Dann schlug es acht, und Julia fragte Mona: „Schläfst du noch nicht ein?“

„Quatsch“, sagte Mona, obwohl sie andauernd gähnte. Moritz nahm sie hoch, sie legte den Kopf auf seine Schulter und dämmerte halb weg.

Trotzdem war sie um zehn Uhr noch dabei, als Ror sagte: „Julia, lies mal die Geschichte vor, und wir blättern durch.“ Das tat sie, danach zeichnete er noch den Vogelschwarm von weitem in ein frühes Bild und sagte: „Fertig.“

„Jetzt noch bunt“, sagte Mona.

„Bunt? Nein“, antwortete Ror.

„Ein bisschen bunt“, bettelte Mona.

„Nein“, sagte Ror.

„Bitte, bitte, Rohrmann“, rief sie.

„Ich denke darüber nach“, versprach er, „aber nicht mehr heute.“

„Nicht vergessen“, sagte Mona, während Ror die Blätter rollte.

„Ich zeige das Sebastian“, sagte er, „doch ich bin fast sicher, dass ihm ist das zu wild ist. Jedenfalls hat es nichts mit meinen bisherigen Büchern zu tun.“

„Wie auch immer, es war toll, dir bei der Arbeit zuzusehen“, sagte Julia, und das fand auch Moritz.

„Mona ist eine prima Antreiberin“, sagte Ror, „und ich habe viel Neues entdeckt. Nicht zuletzt den Wein, wie hieß er noch mal?“

„Burgwegler“, sagte Moritz.

Ror kam noch mit Julia und Mona hoch, um seinen Mantel zu holen, und bevor er ging, malte er Mona mit Filzstift eine Eule auf die Hand. „Du listiges Kind“, sagte er dazu und rannte, um den letzten Zug noch zu erwischen.